"Wir werden vom Schicksal hart- oder weichgeklopft. Es kommt auf das Material an."
Marie von Ebner-Eschenbach

Das Ei Drama 3

von Marcus Tessmer
2010

Es ist Samstag Morgen, der 27. März 2010 und wir befinden uns auf einem Bauernhof irgendwo in Mitteldeutschland. Fast schon majestätisch steigt langsam die Sonne am Horizont auf und taucht den Hof und die umliegenden Felder in eine warme Morgenröte. Die letzten Schneereste verschwinden und am Himmel sieht man Schwalben in ihre alte Heimat zurückfliegen. Eine frische, lauwarme Brise weht über das Land als ob sie verkünden möchte, dass nun endlich der Frühling heimgekehrt ist. Es ist ein wirklich herrlicher Morgen. Auf dem Bauernhof herrscht noch Ruhe. Doch dann beginnt der Hahn des Hofes plötzlich lauthals zu krähen, denn seine Lieblingshenne hat ein Ei gelegt – und was für eines! Das Ei ist absolut makellos und strahlt in einem wunderschönen Braunton. Ganz vorsichtig öffnet es schließlich seine Äuglein und blinzelt der Mama zu. Ein Lächeln huscht über das Gesicht der Henne.

Schließlich beginnt das kleine Ei sein Umfeld zu erforschen. Noch etwas unbeholfen tappst es im Heu herum und beobachtet das Aufgehen der Sonne und die anderen Tiere im Stall. Doch schon nach kurzer Zeit wird sein Gang sicherer. Die Mama ist stets an der Seite und erklärt dem Kleinen all die wundersamen Dinge, die sich vor seinen Augen abspielen. In der Zwischenzeit haben weitere Hennen ihre Eier gelegt, so dass bald ein reges Treiben im Stall herrscht. Die Neuankömmlinge werden schließlich nach draußen auf den Hof geführt, wo der Hahn sie willkommen heißt und eine kurze Rede über das Leben auf dem Bauernhof hält. Gespannt lauschen alle Eier seinen Worten und freuen sich nun Teil einer großen Familie zu sein. Die Hennen nehmen schließlich die Kleinen wieder in ihre Obhut und führen sie auf dem Hof umher. Unser kleines Ei ist besonders wissbegierig und stellt seiner Mutter viele Fragen über den Bauernhof und die anderen teils komisch aussehenden Tiere.

So verbringt es schließlich den ganzen Tag damit, diese neue Welt kennenzulernen. Am Abend ist es dann so müde, dass es sich in das weiche Gefieder der Mutter schmiegt und zufrieden einschläft. Seine Mama hat ihm derweil ein kleines Tagebuch an die Seite gelegt, damit es all seine Erfahrungen und Eindrücke aufschreiben kann. Noch weiß das Ei nicht, welche Zukunft ihm vorbestimmt ist und welche Abenteuer warten ...

28. März 2010

Liebes Tagebuch,

dies ist nun also mein allererster Eintrag. Eigentlich weiß ich gar nicht so richtig, was ich schreiben soll. Meine Mama hat mir mit diesem Tagebuch aber eine große Freude heute morgen gemacht.

Die ganze Welt ist noch so neu für mich. Immer wieder entdecke ich neue interessante Dinge auf dem Bauernhof. Ich beobachte die vielen Tiere und habe mich auch schon mit ein paar anderen Eiern angefreundet. Wir hatten heute zusammen ein lustiges Spiel auf dem Hof gespielt: es nannte sich Eierlauf. Bei diesem Spiel mussten wir ganz schnell vom Stall zum großen Misthaufen rennen und wieder zurück. Ich war das schnellste Ei bei diesem Spiel und meine Mama war ganz stolz darauf.

Ich hab meine Mama sehr lieb. Sie erklärt mir alles immer so gut und in ihrer Nähe fühle ich mich sehr geborgen.
Was ich nur komisch finde, ist, dass ich und die anderen Eier so anders aussehen als unsere Eltern. Ich habe kein weiches Gefieder und schöne lange Beine, sondern nur kleine, tapsige Füße und eine glatte, braune Haut. Meine Mama lachte, als ich sie dazu befragte. Sie meinte, dass ich bald auch so aussehen werde und deutete auf die kleinen Küken in unserer Nähe, die tatsächlich meiner Mama gar nicht so unähnlich sahen. Bei dem Gedanken bald ein Küken zu sein, musste ich lächeln.

Fröhlich rollte ich den ganzen Tag auf dem Hof umher und rief den anderen Tieren zu: “Bald bin ich ein Küken!” Alle mussten dabei lachen. Nur meine Mama sah mit der Zeit etwas wehmütig, fast traurig aus. Ich werde sie morgen dazu einmal fragen. Jetzt bin ich aber sehr müde und werde langsam schlafen gehen.

29. März 2010

Liebes Tagebuch,

heute sprach ich meine Mama darauf an, warum sie gestern so komisch war. Sie meinte, dass sie ein wenig besorgt um mich sei und deutete auf die Menschen, die gerade auf dem Hof ihre Arbeit verrichteten. Meine Mama erzählte mir, dass die Menschen sich zwar gut um die Tiere kümmern und mit Futter und Wasser versorgen, aber ich sollte vorsichtig in ihrer Gegenwart sein. Man kann ihnen nicht trauen. Ab und zu, so meinte sie, verschwinden Tiere und Eier vom Hof und werden ins große Bauernhaus gebracht oder auf komische Maschinen verladen. Niemand kam je wieder zurück. Ein wenig macht mir dieser Gedanke Angst, irgendwann selbst dort zu landen. Meine Mama beruhigte mich aber, da sie immer auf mich aufpassen will.

Ansonsten war es wieder ein sehr spannender Tag. Ich sah ein wenig den Menschen bei der Arbeit zu und lernte fleissig von meiner Mama, was ein kommendes Küken so alles wissen muss. Das Wetter war auch herrlich. Bis zum Nachmittag schien die Sonne. Ich genoß die warmen Sonnenstrahlen und dazu noch diesen angenehmen frischen Frühlingsduft. Am Nachmittag setzte jedoch Regen ein. Zuerst war ich etwas erschrocken, weil ich das noch nicht kannte. Meine Mama beruhigte mich aber, dass der Regen harmlos sei und wichtig für alle Lebewesen. In meiner Neugierde wollte ich unbedingt diesen Regen erleben und begab mich mitten auf den Hof. Ich wurde ganz nass und stellte fest, dass ich Wasser nicht wirklich mag. Naja ein paar junge Ferkel leisteten mir schließlich Gesellschaft und wir machten eine kleine Schlammschlacht auf dem Hof. Das war ein Riesenspaß.

Meine Mama schimpfte später mit mir, weil ich danach so verdreckt aussah. Nun bin ich aber wieder ganz sauber.

Es ist schon spät geworden und ich bin ziemlich müde. Ich bin sehr gespannt, was morgen passiert. Die Menschen werde ich auf jeden Fall weiter beobachten. Bald bin ich dann auch ein Küken. Ach ich freue mich schon so darauf. Nun werde ich mich aber an meine liebe Mama kuscheln und schlafen. Es war ein sehr langer Tag gewesen.

30. März 2010

Liebes Tagebuch,

das Schreiben fällt mir sehr schwer … ich ... ich bin fix und fertig. Den halben Tag habe ich geheult und konnte mich erst in den letzten Stunden ein wenig beruhigen. Ich … ich weiß gar nicht, was überhaupt passiert ist. Es war noch früh am morgen gewesen als Menschen in den Stall kamen und sich viele von uns Eiern griffen. Ich war noch völlig schlaftrunken und wußte gar nicht wie mir geschah.

Meine Mama hörte ich noch verzweifelt nach mir schreien, aber sie konnte mir nicht helfen … ich vermisse sie ...
Wir wurden schließlich in ein dunkles Behältnis gesteckt. Ich war so in Angst und Panik, dass ich mich gar nicht bewegen konnte. Ich spürte nur, dass wir irgendwo hingebracht wurden. Kurze Zeit später begann plötzlich alles zu vibrieren. Es fühlte sich so an, als ob wir in Bewegung waren, obwohl ich mich ja überhaupt nicht bewegte. Die anderen Eier in dem Behältnis waren genauso verstört wie ich. Lauthals schrieen wir um Hilfe, aber niemand hörte uns. Nach kurzer Zeit hörte das Vibrieren auf und ich vernahm eine quietschende Tür. Dann erschrak ich erneut, denn diesmal bewegte sich das Behältnis, in dem ich mich befand. Es dauerte nicht lange bis auch dies aufhörte und alles ruhig wurde.

In dem Behältnis war es total dunkel und eng. Irgendwie gelang es mir ein winziges Loch zu machen, dass wenigstens etwas Licht hineinkam und ich mir ein Bild machen konnte, wo wir uns befanden. Viel konnte ich nicht erkennen. Ab und zu hörte ich Menschenstimmen und sah Schatten an unserem Behältnis vorbeilaufen. Für mich stand fest, dass alles rein gar nicht nach dem Bauernhof aussah. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schlecht und ich dachte an meine liebe Mama. Ob ich sie jemals wiedersehe? Mir fehlt ihre Wärme … es macht mich so unglücklich. Ich versuche jetzt zu schlafen und hoffe, dass dieser Alptraum bald ein Ende hat … warum nur? ...

31. März 2010

Liebes Tagebuch,

der Alptraum geht unvermindert weiter. Ein paar Stunden konnte ich wenigstens schlafen. Doch der dunkle Behälter war einfach viel zu unbequem und eng. Mir kam es in dem dunklen Gefängnis fast wie eine Ewigkeit vor. Ich sehnte mich nach frischer Luft, meiner Mama und dem Bauernhof. Außer meinem kleinen selbstgemachten Lichtspalt gab es nicht viel Positives. Wir versuchten uns gegenseitig Mut zu machen, dass bald wieder alles gut sein werde. Ein paar meiner Leidensgenossen schienen aber in der Dunkelheit fast durchzudrehen. Es war nicht einfach ...

Irgendwann kamen heute wieder erneut Menschen vorbei. Diesmal setzte sich aber unser Behälter in Bewegung und ich wurde erneut nervös, was wohl als nächstes passieren würde. Die Bewegungen waren nicht hastig und nach kurzer Zeit wurde es sogar ganz ruhig. Dann plötzlich gab es wieder komische Geräusche und ein Vibrieren. Es war fast genauso wie am gestrigen Tag. Wie auch gestern hörte es aber nach relativ kurzer Zeit wieder auf und mein Behältnis, in dem ich mich befand, setzte sich wieder in Bewegung. Wir alle zitterten, weil wir nicht wussten, was uns wohl erwarten wird. Plötzlich wurde es dann strahlend hell. Ich brauchte einen Augenblick, um mich an das Licht wieder zu gewöhnen, doch dann erkannte ich einen Menschen. Ich bemerkte, dass wir uns wohl nun in einem Haus dieser Menschen befanden. Die anderen Eier und ich wurden schließlich gepackt und in eine Art Ministall gebracht. Darin befanden sich ein paar für mich seltsame Gestalten. Wenigstens waren wir nicht mehr auf uns alleine gestellt, was mich ein wenig beruhigte.

Der Ort an dem wir uns jetzt also befinden, gefällt mir dennoch nicht. Er ist nicht gemütlich und dazu noch sehr kalt. Auf dem Hof war ich ja schon kühles Wetter gewöhnt, aber hier ist es noch kälter. Hoffentlich hole ich mir nicht eine Erkältung wie ein paar der anderen Eier. Die anderen Bewohner des Ministalls scheinen aber ganz in Ordnung zu sein. Mit einer Mohrrübe und einer Weinflasche habe ich mich bereits etwas angefreundet. Besonders die Weinflasche scheint sehr klug zu sein. Ich werde sie morgen einmal fragen, ob sie uns mehr zu den Menschen und diesem Ort erzählen kann. Ich will hier unbedingt wieder raus, zurück zum Bauernhof und meiner lieben Mama.

1. April 2010

Liebes Tagebuch,

in der Nacht hatte ich einen schönen Traum. Ich war wieder bei meiner Mama und sah wie ein süßes, gelbes Küken mit einem flauschigen Federkleid aus. Ich wurde aus diesem Traum leider unsanft geweckt, als einer der Menschen unseren Ministall öffnete und nach meinem Freund, der Mohrrübe, griff. Ich erschrak dabei sehr. Die kleine Mohrrübe schrie wie am Spieß, aber wir konnten ihr nicht helfen. Sie tat mir so leid. Es kam mir alles wie ein schlechter Scherz vor.
Die Weinflasche erkannte, dass wir so ziemlich alle am Ende waren und erzählte uns daher von dem Ort, wo wir uns befanden und auch ein wenig von den Menschen.

Als 'Kühlschrank' bezeichnete die Weinflasche unser Gefängnis. Sie erzählte uns, dass hier ständig Neuankömmlinge kommen, aber viele nach kurzer Zeit verschwinden, weil sie von den bösen Menschen gefressen werden. Ich wurde bei dem Gedanken ganz bleich und zitterte vor Angst. Dann fragte ich aber die Weinflasche, woher sie das alles weiß und warum sie noch nicht verschwunden sei.
Die Weinflasche meinte zu mir nur, dass die Menschen glauben, dass es besser ist, sie eine lange Zeit kühl aufzubewahren. Den genauen Grund wusste die Weinflasche aber auch nicht. Es sei unsere Bestimmung, meinte die Weinflasche. Ich wollte mich mit diesem Schicksal aber nicht abfinden. Ein paar Mal stemmte ich mich mit den anderen Eiern gegen den Kühlschrank, aber nichts passierte, so dass wir schließlich aufgaben.

Momentan fühle ich mich sehr schlecht und hilflos, aber ich werde mich zusammenreißen und nicht aufgeben. Irgendeine Möglichkeit zur Flucht muss es doch geben. Aus diesem kalten Gefängnis will ich unbedingt raus. Hier drin bekommt man nicht einmal mit ob es Tag oder Nacht ist. Ich fühle mich gerade aber sehr müde, so dass ich schlafen werde. Vielleicht fällt mir im Traum ein Fluchtplan ein ...

2. April 2010

Liebes Tagebuch,

mir geht es augenblicklich zwar gut, aber es war wieder ein sehr qualvoller Tag. Eigentlich ist es schon schlimm genug, hier in diesem dunklen, kühlen Kühlschrank zu hocken, aber dann war ja noch dieses schreckliche Erlebnis ...
Wie jeden Tag öffneten die Menschen unzählige Male mein kaltes Gefängnis, doch einmal galt uns Eiern ihre Aufmerksamkeit. Meine Eierkameraden und ich wurde aus dem Kühlschrank genommen. Wir hatten alle große Panik, da niemand wußte, was als nächstes kommen würde. Schließlich legte man uns in ein Behältnis mit Wasser. Anfangs war es noch sehr angenehm, aber ich merkte schnell, dass irgendetwas hier nicht stimmt.

Von Minute zu Minute wurde es wärmer und wärmer. Die Hitze war bald kaum noch auszuhalten. Ein paar von uns schrieen wie am Spieß. Ein Ei fiel sogar in Ohnmacht. Mir war auch die ganze Zeit über total komisch und schwindelig. Mein Magen fühlte sich irgendwie sehr schwer an. Ich konnte aber nicht verstehen warum.
Nach kurzer Zeit war dieses Höllenbad zum Glück vorüber. Viel länger hätte ich es auch nicht ausgehalten. Wir wurden schließlich auf eine glatte Fläche gebracht und dann war für eine kurze Zeit Ruhe. Wir konnten uns dadurch ein wenig beruhigen und unsere erhitzten Körper abkühlen.

Plötzlich vernahmen wir aber alle ein unverschämtes, dreckiges Lachen. Unweit von uns stand da so ein Typ. Er stellte sich als Salzstreuer vor. Er meinte zu uns, dass wir erbärmlich sind und bald zusammen viel Spaß haben werden. Dieser fast schon irre Blick in seinen Augen gefiel mir ganz und gar nicht. Was er wohl meinte? … Am liebsten hätte ich mich so richtig mit ihm angelegt, aber plötzlich tauchte ein Mensch auf und hatte dabei allerhand merkwürdiges Utensil dabei. “Jetzt werdet ihr für das Osterfest bemalt”, meinte dieser Klugscheißer von Salzstreuer. Ich verstand nur die Hälfte, aber konnte zusehen, wie ein Ei nach dem Anderen verschiedene Muster auf den Körper bekam. Ich blieb natürlich nicht verschont. Wenigstens war diese Prozedur im Vergleich zum Bad recht angenehm und ich muss zugeben, gar nicht mal schlecht jetzt auszusehen.

Nachdem alle bemalt worden sind, brachte man uns wieder zurück in unser kaltes Gefängnis. Der alten Weinflasche musste ich unweigerlich die Frage stellen, was der Salzstreuer mit 'Osterfest' meinte. Die Weinflasche erzählte uns über das Fest der Menschen und die Osterbräuche. Mir ging es beim zuhören immer schlechter, denn es stellte sich heraus, dass wir wohl bald von den Menschen gefressen werden. Zu allem Unglück sollte dieser blöde Salzstreuer auch dabei sein, ohne dass ihm selbst etwas passiert.
In mir stieg die Wut, aber es kamen auch Tränen, denn ich dachte an den Hof und meine Mutter. Die Weinflasche versuchte uns schließlich zu ermutigen und begann uns eine Legende zu erzählen. Ich versuche sie einmal hier in meinem Tagebuch sinngemäß wiederzugeben:

“Es gab einmal zwei Eier, die in der selben Situation wie wir waren. Am Ostersonntag (die Weinflasche meinte, dass das in 2 Tagen wieder sein wird) wurden die Eier immer nach draußen gebracht als Vorbereitung auf ein typisches Osterritual: dem 'Eiersuchen'. In einem unbeobachteten Moment gelang es jeweils diesen zwei mutigen Eiern, unbemerkt vom Haus zu veschwinden. Seitdem sind sie die gefeierten Helden im Kühlschrank.”

Ich fragte die Weinflasche, was anschließend aus ihnen geworden ist. Darauf konnte mir die Flasche leider aber keine genaue Antwort geben. Man habe sie auf dem gegenüberliegenden Feld zum letzten Mal gesehen. Die Weinflasche geht davon aus, dass sie ihre Freiheit nun in vollen Zügen genießen.
Ich bin fasziniert von dieser Geschichte. In 2 Tagen ergibt sich für mich also eine Gelegenheit. Ich werde mich bis dahin auf meine Flucht gut vorbereiten, doch jetzt muss ich erst einmal schlafen, denn in 2 Tagen muss ich ausgeruht sein.

3. April 2010

Liebes Tagebuch,

den ganzen Tag über konnte ich an nichts Anderes als an meine Flucht und die Geschichte von der Weinflasche denken. Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was wohl aus den beiden Eierhelden geworden ist? Wie schaffe ich es auf den Bauernhof zurück? Wie ist wohl überhaupt die Welt außerhalb von diesem Gefängnis und dem Bauernhof? Auf all diese Fragen konnte ich bislang noch keine Antworten finden. Fest stand für mich nur, dass ich für meine Flucht gut vorbereitet sein sollte. Aber wie bereitet man sich auf eine Flucht vor? Mir kamen tagsüber erste Zweifel und Tränen stiegen mir wieder in die Augen.

Es muss schon ein glücklicher Zufall gewesen sein, dass mit dem heutigen Tag neue Leidensgenossen in den Kühlschrank kamen. Sie sahen mein Wehklagen und wollten mich unbedingt bei meinem Fluchtvorhaben unterstützen. Die neuen Kühlschrankinsassen stellten sich mir als 'Bambussprossen' vor. Sie erzählten mir, dass sie aus einem sehr entfernten Land gekommen sind und eine Kampfkunst beherrschen. Sie nennen es 'Karate'. Verschiedenste Schlag-, Tritt- und Wurftechniken zeigten mir meine neuen Freunde. Ich trainierte wie besessen, denn diese Kampfkunst könnte sich als sehr nützlich erweisen, wie ich feststellte. Jetzt bin ich dafür ganz schön geschafft. Die Bambussprossen waren aber sehr zufrieden mit mir. Ich beherrsche zwar nur ein paar Grundtechniken, aber es ist besser als gar nichts.

Mein Magen fühlt sich leider immer noch sehr hart und schwer an. Ein wenig mache ich mir Sorgen, dass das wohl nie mehr weg geht ... seit diesem schrecklichen heißen Bad gestern.
Ich bin jetzt schon sehr aufgeregt, ob morgen mit der Flucht alles klappen wird. Ich denke, dass ich gut vorbereitet bin. Morgen brauche ich dann nur eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Zu verlieren habe ich eigentlich nichts mehr. Ich möchte doch unbedingt meine Mama wiedersehen und bald ein junges Küken sein …
Sollte ich mein Tagebuch auf der Flucht verlieren oder mir etwas zustoßen, so hoffe ich, dass es jemand finden wird und meiner Mama überbringt.

Mama, du sollst wissen, dass ich dich sehr vermisse und lieb habe.

Epilog

Liebes Tagebuch,

es muss schon ein Wunder gewesen sein, dass ich dem Greifvogel entkam und den freien Fall aus großer Höhe nahezu unbeschadet überlebte. Dem Misthaufen sei Dank! Wer hätte gedacht, dass ich auch ausgerechnet auf dem Misthaufen vom Bauernhof lande. Ich bin so froh wieder hier auf dem Bauernhof und in der Nähe meiner Mama zu sein. Alle Tiere waren freudig überrascht mich wiederzusehen. Das Wiedersehen mit meiner Mama war ein sehr bewegender Moment.

Die letzten Tage werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen. Besonders die Flucht aus dem Kühlschrank wird mir immer in Erinnerung bleiben. Ich konnte meinem Schicksal vorerst entkommen, werde nun aber noch vorsichtiger gegenüber den Menschen sein. Meine Erlebnisse werde ich an die Tiere des Bauernhofes weitergeben, vielleicht kann ich zukünftige Eier vor ähnlichen “Abenteuern” bewahren.
Ob ich jemals wieder ruhig schlafen kann, weiß ich nicht. Die letzten Tage haben mich sehr geprägt. Ich weiß nun, was es heißt 'frei' zu sein, frische Luft atmen zu können und in Gesellschaft mir vertrauter Lebewesen zu sein. Manchmal frage ich mich, ob die zwei Eier aus der Legende tatsächlich ihre Flucht erfolgreich beenden konnten. Nach dem, was ich erlebte, habe ich sehr große Zweifel.

Fressen und gefressen werden – dies scheint wohl das grausame Gesetz der Natur zu sein, an das ich mich noch gewöhnen muß. Wir müssen jeden Tag auf der Hut sein und mit offenen Augen und Ohren durch das Leben gehen.
Noch immer bin ich kein Küken, und ich glaube mittlerweile nicht mehr, jemals so wie meine Eltern zu werden. Seit jenem schicksalhaften Tag mit dem heißen Bad scheint sich mein Körper verändert zu haben. Es macht mich traurig, für immer ein Ei zu bleiben und niemals ein schönes Gefieder tragen zu können. Meine Mama tröstete mich heute und meinte, dass ich etwas Besonderes bin: ein buntes Ei auf einem Bauernhof! Ich sollte stolz darauf sein. Ja, ich bin darauf auch stolz und trotz der Tragik mich nie mehr weiterentwickeln zu können, habe ich allen Grund dazu glücklich zu sein. Ich bin wieder dort, wo es am Schönsten ist: Daheim!